Josie Zibner

Das Kind, das Hoffnung schenkt

In den drei Jahren, seitdem wir die Zibners zum letzten Mal besucht haben, hat Josie enorme Fortschritte gemacht.

Es ist Januar und Krefeld hat sich in eine weiche Puderzuckerwelt verwandelt. Als ich die Autotür zuschlage und das Geräusch vom zentimeterhohen Schnee gedämpft wird, schafft es Josies lautes Lachen, die Schneebarriere zu überwinden. Gemeinsam mit Odin, ihrem Therapiehund, läuft sie auf mich zu. Ihr strahlendes Lächeln reicht bis zu ihren Augen, als sie kurz vor mir abbremst. Josie zeigt auf ihre Mütze und dann auf meine Haare. Schneeflocken glitzern auf unseren Köpfen. Ihre Augen glänzen, als einige unverständlichen Laute aufgeregt aus ihrem Mund gluckern. Sie nimmt mich an die Hand und zieht mich zur Tür. Könnte sie sprechen, würde sie wohl sagen „Komm‘ mit rein!“, denke ich. Aber auch, wenn Josies es nicht schafft, verbal zu formulieren, was sie fühlt, merke ich schon jetzt, dass sich die inzwischen Siebenjährige deutlich verändert hat, seit ich zum letzten Mal hier war. Drei Jahre – die Ärzte sagten damals, für Josies Entwicklung spiele Zeit keine Rolle, sie gehe nicht mehr weiter. Aber es sind drei Jahre, in denen Josie einen sichtbaren Sprung nach vorne gemacht hat. Und in denen mich die Geschichte des „Kinds, das niemals schläft“ mit dem seltenen Gendefekt nicht mehr losließ.

RÜCKBLICK

Es war der erste sonnige Tag des Jahres, als ich im März 2021 zum ersten Mal bei Familie Zibner zu Besuch war, um Tochter Josie kennenzulernen. Mama Jennifer und Papa Björn servierten Kaffee im Garten. Bei meinem Eintreffen ahnte ich noch nicht, was der Artikel in mir und auch in unserer gesamten Leserschaft auslösen würde.

Josie leidet am Angelman-Syndrom, einer seltenen Veränderung auf Chromosom 15, die die körperliche und geistige Entwicklung stark verzögert und den Hormonhaushalt stört: Josies Körper produziert zu wenig Melantonin, was dazu führt, dass sie nicht müde wird. Sie schläft maximal 90 Minuten am Stück und braucht nicht mehr als fünf Stunden Schlaf. In allen anderen Stunden ist Josie „on fire“ – wie eine Aufziehmaus beginnt sie ihren Tag. Sie geht nicht, sie flitzt. Sie isst nicht, sie schaufelt. Sie spielt nicht, sie tobt. Gleichzeitig hat Josie ein reduziertes Schmerzempfinden – in Kombination mit der Hyperaktivität eine explosive Mischung, denn Josie merkt nicht, wenn sie sich verletzt oder sich in Gefahr bringt. Angelman-Kinder leiden außerdem an epileptischen Anfällen. In schlimmen Zeiten treten sie mehrmals am Tag weg und kippen wie eine Gummipuppe einfach um.

Mit ihrer ständigen guten Laune und ihrem riesigen Bewegungsdrang ist Josie ein echter „Rockstar“.

Mehr als 30 Monate hatte die Familie damals nach einer Diagnose gesucht und sie am Ende in einer Spezialklinik erhalten. Josies Körper wird wachsen, die Entwicklung ihres Geistes aber bleibt stehen. Josie wird sich nie selbst ein Brot schmieren können. Josie wird nie wie andere Kinder das Sprechen lernen. Josie wird nie eine Partnerschaft haben und nie allein leben können.

Auch wenn Jennifer und Björn schon bei meinem ersten Besuch 2021 vor ehrlichem Optimismus strahlten, verrieten die dunkeln Ringe um ihre Augen doch die hohe Anstrengung. Beide lernten damals noch, mit der lebensverändernden Diagnose umzugehen und die mit ihr verbundenen alltäglichen Herausforderungen anzunehmenen. Dazu gehörten etwa der Kampf mit der Krankenkasse und das Aufstellen eines neuen Finanzplans: auf einmal war statt zwei Gehältern nämlich nur noch eines da. Die Zibners mussten lernen, über den eigenen Schatten zu springen und um Unterstützung zu bitten – Josie zuliebe, für ein möglichst selbstbestimmtes Leben.

Ihr größter materieller Wunsch war damals ein besonderes Fahrrad: Josie war zu schwer geworden, um im Kindersitz auf Mamas oder Papas Fahrrad mitzufahren. Wir verbanden Josies Geschichte mit einem Spendenaufruf. Was dann passierte, überraschte uns alle. Am Ende sammelten sich auf dem Spendenkonto 20.000 Euro für Familie Zibner. Eine unfassbare Summe – eine Summe, die der Familie Zibner Sorgen nahm und ihr Leben veränderte.

HEUTE

Das Haus riecht nach Kuchen, als Josie und ich durch die Türe kommen. Stürmisch zieht sie mich zum großen Esstisch und legt mir vorsichtig ihre vor Kälte roten Finger in die Hände. Ihre Augen schauen mich abwartend an. Josie – das habe ich bereits 2021 gelernt – kann die Kälte ihrer Finger kaum spüren. Umso erstaunter bin ich, dass sie erkennt, dass ich mit meiner Wärme die roten Flecken auf ihren Händen auflösen kann. Während ich meine Finger um ihre schließe, blubbert sie los. Immer wieder zieht sie ihre Hände hervor, um Gesten zu machen. Und auch, wenn ich die Siebenjährige immer noch nicht verstehen kann, merke ich sofort, dass sich ihre Kommunikation verändert hat. Als ich das letzte Mal hier war, hatte sich Josie ausschließlich über Klopfen ausdrücken können. Jetzt sind Gebärden und Laute dazugekommen. Für ein Kind, das sich damals angeblich nicht mehr viel entwickeln sollte, ein riesiger Schritt.

Josie steht nicht lange still. Als ihre Hände wieder eine normale Farbe angenommen haben, stürmt sie mit Schwester Annabell und Froschkönig Ulrich, einem Helfer aus dem Kinderzentrum Stups, der einmal in der Woche zu Besuch kommt, nach oben. Jennifer, Björn und ich haben Zeit, in Ruhe miteinander zu sprechen. Björn witzelt rum, wir lachen gemeinsam – die beiden wirken ausgeruhter, nicht mehr so angestrengt. Direkt fällt mir ein Familienfoto in den Blick: In langen Neoprenanzügen strahlt die vierköpfige Familien aus einem Schwimmbecken in die Kamera – daneben: zwei dicke Kolosse mit langen Barthaaren, die Seelöwen Lou und Mickey. „Wir konnten von eurem Geld nicht nur ein gebrauchtes Therapiefahrrad kaufen, sondern auch mehrere Seelöwentherapien an der Ostsee machen“, erzählt Jennifer. „Für uns war das der erste Urlaub als Familie überhaupt.“ Schon immer hatte sich die Familie eine tiergestützte Therapie gewünscht – die Krankenkasse lehnte ab. „Wir können natürlich nicht messen, ob ihre Entwicklungssprünge wirklich mit der Seelöwentherapie zusammenhängen, aber irgendwie liegt es schon auf der Hand“, erklärt ihre Mutter weiter.

Schwester Annabell ist immer mit dabei.

Während wir an unserem Kaffee nippen und ins Plaudern geraten sind, schweift mein Blick durch den Raum. Immer wieder blitzt es hinter der Türe hervor, Katzenaugen reflektieren im Licht des Kamins: Hier hat Josie ihren Schultornister abgestellt. „Ja, Josie ist jetzt ein Schulkind“, erklärt Jennifer stolz. „sogar ein sehr glückliches.“ Im Sommer ist die Siebenjährige in der LVR-Gerd-Jansen-Schule in Traar eingeschult worden. Die Schule ist auf Kinder mit Behinderungen spezialisiert. Bei meinem letzten Besuch schien die Möglichkeit für Josie, jemals eine Schule zu besuchen, meilenweit entfernt. „Der Anfang war auch nicht leicht, da hatten wir kurz Sorge, dass es nicht klappt“, führt Jennifer aus. „Aber inzwischen geht Josie sehr gerne hin.“

Bei schönem Wetter fährt Jennifer die Siebenjährige mit dem Rad zur Schule. Björn hat auf den Gepäckträger eine große Kiste montiert. Hier sind Josies Toni, Sportsachen, Windeln und ihr Reha-Buggy oder ihr Therapiehund Odin untergebracht. „Josie und die gefüllte Kiste wiegen alleine 80 Kilo, da fährt man schon ein ganz schönes Gewicht mit sich rum“, sagt Björn lachend. „Aber für Josie ist das ganz toll – es lohnt sich.“ Während die Eltern kräftig strampeln, winkt Josie wie eine kleine Prinzessin in der Kutsche jedem Passanten zu. Dabei strahlt sie von einem Ohr zum anderen.

Therapiehund Odin hat es sich im Lastenfahrrad bequem gemacht.

Nicht nur auf dem Fahrrad ist Josie ein kleiner Rockstar, auch in der Schule sorgt sie für Stimmung. Josie liebt es, sich zu bewegen. Wenn sie morgens zum Haupteingang läuft, startet Mama Jennifer über das Handy Musik. Der Taxifahrer, der einige Schüler morgens abholt, spielt mit: Immer wieder lässt er die Rampe für die Rollstuhlkinder hoch und runterfahren und tanzt mit. Ob im Rolli oder vor dem Wagen, der Schulhof tanzt – und Josie quietscht vor Vergnügen.

Jennifer erinnert sich aber auch an Zeiten, an denen der Schultag von ganz anderen Gefühlen geprägt war. „Josie hat zu Beginn die Grundbedürfnisse verweigert – sie hat nichts getrunken, wollte nicht in die Windel machen und auch nichts essen“, erzählt sie. Verändert hat sich die Situation mit dem Vertrauensaufbau zur Integrationshelferin – und mit einem Sprachcomputer. Sie kann hier auf unterschiedliche Bilder klicken, der Computer spricht das dazugehörige Wort laut aus. Auch, wenn der Wortschatz durch den Computer begrenzt ist, kann Josie dadurch kommunizieren und wird zum Teil der Klassengemeinschaft.

„Josie wird nie ein normales Kind sein, sie wird im Alltag immer auffallen und dennoch gibt es ihr die Möglichkeit, wenigstens in der Schule dazuzugehören“, beschreibt Jennifer. Ihr Ausdruck verändert sich, wenn sie beginnt, über Teilhabe zu sprechen. Die wachen Augen füllen sich mit Wut und Verzweiflung. Denn Josies Inklusion endet, wenn sie den Klassenraum verlässt. Der Sprachcomputer ist zu unhandlich. Josie kann ihn nicht tragen, er bleibt in der Schule zurück. „Die Krux ist, dass man Josie ihre Behinderung auf den ersten Blick nicht ansieht. Wird sie auf der Straße angesprochen, weiß sie nicht, wie sie reagieren soll. Sie will kommunizieren, aber die Menschen verstehen sie nicht“, erklärt ihre Mutter weiter. „Josie schämt sich. Sie zieht sich dann zurück. Als Mutter tut es so weh, das zu sehen.“ Über die Krankenkasse hat die Familie vergeblich versucht, zusätzlich einen kleineren Sprachcomputer in Handygröße zu beantragen – die Kasse aber hat die Anschaffung des 4.200 Euro teuren Geräts immer wieder abgelehnt.

Mama Jennifer Zibner ist überglücklich über die gute Entwicklung ihrer Tochter.

Das Gerät würde Josie vielleicht auch helfen, bessere Freundschaften zu knüpfen. Angelman-Kinder gelten als sehr sozial, wird Josie aber nicht verstanden, reagiert sie entsprechend. Sie hält die anderen Kinder zum Beispiel fest, weil sie mit ihnen sprechen möchte. „Josie kann ihre Kraft nicht einschätzen, die anderen bekommen Angst und es führt zu Missverständnissen“, schildert Jennifer weiter und ihre Augen füllen sich mit Tränen. „In Annabells Schulbus haben die Kinder mal gerufen ‚Deine Schwester ist ein Monster‘. Das erträgt man als Mutter nur schwer.“ Jetzt laufen Jennifers Augen über und zwei dicke Tränen rollen ihre Wange herunter. „Kannst du dir vorstellen, dass Josie erst einmal in ein Freundebuch schreiben durfte? Dass sie mit sieben Jahren erst zwei Mal auf einem Kindergeburtstag eingeladen war? Die Menschen haben Angst vor allem, was anders ist “, erklärt Jennifer.

Ja, auch das hat sich seit dem letzten Besuch verändert. Ging es damals darum als Familie „Leben zu lernen“, ist ein neuer Flaggenkampf dazukommen. Die Zibners möchten Inklusion vorantreiben, damit Kinder wie Josie tatsächlich ein Teil der Gesellschaft werden. Sie haben dazu diverse Ehrenämter im Angelman-Verein übernommen. Björn organisiert zum Beispiel „Väter-Treffen“ für Betroffene. Jennifer begleitet als Regionaleitung unter anderem „Neu-Diagnostizierte“ in Westdeutschland. Im Moment gehören 187 Familien zu ihrem Gebiet. „Auch mir tut das irgendwie gut“, sagt sie leise. „Wenn die Familien Josie kennenlernen, wenn sie sehen, dass wir zwar eine etwas andere, aber eben auch eine glückliche Familie sind, dann verlieren sie die Angst vor der Zukunft. Ich habe das Gefühl, dass Josie Hoffnung schenkt.“

Inzwischen hat sich die Dunkelheit über den Schnee gelegt und der Zeiger auf der großen Uhr über dem Kamin ist sichtlich gewandert. Josies Mund glänzt vom Schokoladenguss des Kuchens, die Bäuche sind voll und die Teller sind leer. Als ich meine Stiefel anziehe, um durch den Schnee zurück zum Auto zu waten, legt mir Josie erneut ihre Hand auf das Bein. Ich spüre ihre Wärme. Am Steuer angekommen, bleibe ich einige Minuten sitzen, bevor ich den Motor starte. Als ich das letzte Mal hier war, vor drei Jahren, war das der Moment, als auch meine Augen überschwappten. Nicht vor Traurigkeit, sondern vor Hochachtung vor dieser Familie – vor ihrer Lebenslust, vor ihrem Optimismus, vor ihrer Liebe zueinander und ihrer Stärke füreinander. Diese Hochachtung ist geblieben. Josie gibt nicht nur Hoffnung, Josies Geschichte hat auch mich verändert.

Familie Zibner freut sich über jede finanzielle Unterstützung für die Anschaffung eines Sprachcomputers und zusätzliche Therapien für Josie:
Kontoinhaber: Björn Zibner-Vogt
IBAN DE89 2004 1155 0154 4618 05
Stichwort: Josie

Fotos: Felix Burandt
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